Gestern ist AIM dann endgültig abgeschaltet worden.
Ich habe auch gebührlich Abschied gefeiert, wenn auch mit weniger Alkohol, als erwartet. Dafür traditionell mit Ansprachen und Austausch von Geschichten. Wobei der Mensch, mit dem ich gefeiert habe, mit AIM gar nicht wirklich zu tun hatte, und es mehr ein "Was hat uns das Internet damals bedeutet?" gewesen ist.
Für mich war AIM - oder besser AOL, woraus AIM ja letztlich entstanden ist - unheimlich wichtig gewesen. Mir ist dann auch erst gestern wirklich bewusst geworden, warum eigentlich, weil es mich zwar sehr geprägt und geformt hat, aber erst in der Reflektion darüber gestern wurde mir wirklich bewusst, wie sehr. Und auch ein wenig, warum.
Als ich angefangen habe, mich im Internet zu bewegen, gab es AIM noch gar nicht. Mein Kontakt ins Internet war damals AOL. Und ich war noch echt jung. Anfangs noch der Hannover Chatroom, dann irgendwann auch Rollenspiel - erst die beiden offiziellen Räume, später dann auch private Räume. Überhaupt bot AOL (und später dann eben AIM) wirklich viele Möglichkeiten: öffentliche und private Räume, mindestens letztere konnte man frei erstellen (bei den öffentlichen bin ich mir nicht mehr sicher), privater one-on-one Chat, Profile, und der integrierte Browser.
Ich kann mich erinnern, damals arg viel Zeit im Internet verbracht zu haben. Erst noch mit Modem, später dann mit ISDN. Mein Leben hat sich quasi im Internet abgespielt.
Menschen, die nicht genervt waren, wenn ich Fragen hatte oder mich beteiligen wollte.
Menschen, die sich für mich interessiert haben.
Menschen, mit denen ich mich wirklich austauschen konnte. Die mich verstanden.
Menschen, die meine Meinung und meine Persönlichkeit geschätzt haben.
Ein glückliches Leben, in dem ich einfach sein durfte.
Ich weiß, dass ich, als ich Ende 2003 zu meinem Vater gezogen bin, schon mitten im RP gewesen bin. Ich war gerade 13 geworden, und hatte eine ganze Welt vor mir, die ich mit vielen anderen tollen Menschen geteilt habe. Daraus sind einige Freundschaften entstanden, weil ich nicht nur in-character Verbindungen eingegangen bin, sondern eben auch über diese geteilte Welt hinaus zu den Menschen hinter den Charakteren.
Ich kann mich daran erinnern, dass dieses Leben, das ich online geführt habe, für mich oftmals deutlich realer gewesen ist, als das, was ich IRL hatte. Ich hatte echte Freunde dort, mit denen ich mein Leben geteilt habe; die ihres mit mir geteilt haben. Wir haben uns Briefe geschrieben, und hatten über SMS auch dann Kontakt, wenn wir gerade nicht online waren. Mir hat das die Welt bedeutet - noch mehr. Es war mein Leben, bedeutete Nähe und Liebe und Zärtlichkeit. Gemeinschaft, Freundschaft.
Ich hab Päckchen bekommen, von Menschen, die mir wichtig waren. Die Sachen daraus habe ich heute noch, und sie sind unbeschreiblich wertvoll für mich. Waren es noch viel mehr, als ich sie bekommen habe.
Mein bester Freund damals, mit dem ich nachts SMS geschrieben habe, wenn wir nicht schlafen konnten, hat mir einen Anhänger mit goldenen Sternen darin geschickt. Er hat mich immer Sternchen genannt. Ich habe auch eine Drachenfigur von ihm.
Eine sehr nahe Freundin, mit der ich heute noch Kontakt habe, auch wenn der zwischendurch immer wieder einschläft, hat mir eine Umhängetasche genäht. Ich nutze sie heute noch.
Ein anderer Mensch hat mir einen Kunstdruck von dem Gestüt geschickt, auf dem wir gespielt haben. Und Fotos, und Briefe.
Ich habe von einigen Menschen Musik geschickt bekommen, zum Teil auf Kassette, zum Teil auf CD. Ich habe die Kassette geliebt, auf der die A Capella-Version von Hijo de la Luna war. Wenn es mir schlecht ging, habe ich mich in meine Decke gewickelt und es gehört. Immer und immer wieder, auch wenn ich dafür ständig zurückspulen musste. Die Kassette ist mittlerweile kaputt, und ich habe unheimlich geheult, als es passiert ist. Vor allem, weil mir der Kontakt zu dem Menschen verboten wurde.
Ich hab Schandmaul kennen gelernt, weil es mir auf CD geschickt wurde, und kann mich erinnern, ewig nichts anderes gehört zu haben.
Tabaluga war auch toll, weil es mich an die schöne Zeit meiner Kindheit erinnert hat, und gleichzeitig eine unheimlich liebevolle Geste war, von einem Menschen, der mir viel bedeutet hat.
All diese Menschen waren für mich vollkommen real. Ich habe niemals daran gezweifelt, das war immer ganz klar. Realer meist, wie gesagt, als mein Real Life. Diese Token, die mich in meinem Real Life begleiten konnten, die ich greifen konnte, machte sie noch realer. Wie Dinge, die man mit in einem Traum nehmen kann, und sich sicherer fühlt. Erinnerungen daran, dass da noch mehr ist, und das nicht verloren geht dadurch.
Da war der Mensch, den ich nicht lange kannte, der in mir die Liebe für Japan geweckt hat. Einfach, weil er mir von der Kultur erzählt hat. Nachdem er mich zu einer Teezeremonie eingeladen hatte (im RP). Den ich erst kurz vor seinem Tod kennen lernen durfte, der auf mich aber enorm viel Einfluss hatte. Ich bin noch immer unheimlich dankbar über die Email, die er vor seinem Tod geschrieben hat, weil es möglich war, und seine Angehörigen sie uns weitergeleitet haben. Ich hab sie nicht mehr, aber ich habe das Foto noch, das daran angehängt war. Und ich schaue es mir immer wieder an, und bin gleichzeitig traurig und glücklich.
Was AIM bzw. AOL für mich bedeutet hat? Es war mein Leben. Es hat mich am Leben gehalten, und es war mein Rückzugsort, meine Sicherheit. Meine Freunde. Die Plattform meiner ersten Liebe. Coping-mechanism. Nähe. Ein helles, warmes Licht in der Dunkelheit meiner Existenz. Es hat dazu geführt, dass ich Menschen an mich heranlassen kann. Dass ich wusste, dass es Menschen gibt, die für mich passen - auch wenn vielleicht nicht hier.
Ich wäre vermutlich nie raus gegangen, wenn mein Vater mir nicht zunehmend mehr Kontakt zu Menschen verboten hätte, und letztlich auch den Zugang unheimlich beschränkt. Er hat versucht, mir all das wegzunehmen - und das hat er auch geschafft. Was er nicht geschafft hat,ist, mir das zu nehmen, was es in mir schon längst ausgelöst hatte. All die Samen zu töten, die schon längst am Keimen waren.
Ohne AOL hätte ich nie erfahren, dass es Menschen in dieser Welt gibt, die mich, meine Meinung und meine Art schätzen. Dass es Menschen gibt, die mich lieben können, auf unterschiedlichste Arten. Und mit sozialen Situationen umzugehen. Zu einem Zeitpunkt, an dem es für meine Entwicklung essentiell gewesen ist.
Die ganze Entwicklung später wäre so viel schwieriger, vielleicht unmöglich gewesen, wenn ich diese Erfahrungen nicht gemacht hätte. Und einige dieser Menschen nicht hätte treffen können.
Sie sind alle noch immer in meinem Herzen. Jeder einzelne. Unabhängig, wie wir auseinander gegangen sind, was uns heute trennt, ob wir noch Kontakt haben oder nicht. Ob es den Menschen überhaupt gibt oder nicht.
Und falls ihr es lesen solltet: Ich danke euch. Vielmals. Ihr habt mein Leben verändert, und wart unbeschreiblich wichtig für mich.
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