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Rücksicht -- Selbstaufgabe -- Egoismus

Rücksicht ist für mich ein wirklich schwieriges Wort.
Es wird so oft benutzt, herangezogen, um die Bedürfnisse des einen Menschen zu übergehen, um die des anderen zu erfüllen. Meist von letzterem, oft von Außenstehenden.
Uns wird beigebracht, dass wir Rücksicht nehmen sollen auf unser Umfeld. Insbesondere auf die Menschen, die uns nahe stehen - Familie, Freunde, Partner, Kinder. Je näher, desto mehr Rücksicht ist verlangt.

Aber Rücksicht ist nicht, das Bedürfnis zu erfüllen, welches vorgebracht wird. Rücksicht bedeutet, das Bedürfnis desjenigen zu  berücksichtigen, zu bedenken, auf den man Rücksicht nehmen will oder soll, und seine Entscheidung dann mit diesem Bedürfnis im Hinterkopf zu treffen. Das bedeutet eben nicht, dass dieses geäußerte Bedürfnis erfüllt wird, oder dass man rücksichtslos handelt, wenn man sich anders entscheidet. Es bedeutet nur, dass man es in die Entscheidungsfindung mit einbezieht. Die Gewichtung und auch die endgültige Entscheidung liegen bei demjenigen, der Rücksicht nimmt, nicht bei demjenigen, auf den Rücksicht genommen werden soll.

Wenn Rücksicht herangezogen wird, um ein Bedürfnis durchzuboxen, dann geschehen hier ein paar Dinge. Zum einen nimmt derjenige, der "Rücksicht" einfordert, keine Rücksicht auf den Menschen, von dem er es einfordert. Er ist egoistisch, vielleicht gar egozentrisch, und tarnt es hinter dem Deckmäntelchen der Rücksicht. Zum anderen verlangt er von seinem Gegenüber zugleich Selbstaufgabe.
Wenn also nach Rücksicht verlangt wird, ist es nur allzu häufig eigentlich der Versuch, Autonomie zu beschneiden. Sehr deutlich sichtbar wird es dann, wenn mensch eine Entscheidung trifft, und ihm dann Egoismus vorgeworfen wird, weil sich seine Entscheidung nicht mit den Bedürfnissen deckt, die vorher geäußert wurden. Wenn also das Verständnis von Rücksicht nicht mehr bedeutet, dass es bedacht wird, sondern die Erfüllung des Bedürfnisses die einzige valide oder zumindest annehmbare Option ist. Rücksicht bedeutet aber nicht, die eigenen Bedürfnisse hinten anzustellen, oder gar zu vernachlässigen. Erst recht nicht, sie zu missachten.

Rücksicht bedeutet, vorhandene Bedürfnisse zu verstehen, zu bedenken, ggf. gegeneinander abzuwägen, und dann eine eigene Entscheidung zu treffen. Es heißt, nicht einfach das zu tun, was man gerade will, aber dennoch selbst zu entscheiden, was gerade wichtiger ist. Nur, weil man das eigene Bedürfnis dann höher gewichtet und sich dafür entscheidet, bedeutet das nicht, dass man keine Rücksicht genommen hätte. Es bedeutet vor allem, dass man sich nicht selbst aufgibt.
Das bedeutet aber auch, dass von Außen nicht entschieden werden kann, ob nun Rücksicht genommen wurde oder nicht - weil das Ergebnis vollkommen offen ist. Selbst wenn die Entscheidung immer wieder zu Gunsten des Entscheidenden ausfällt, bedeutet das nicht, dass er egoistisch im negativen Sinne ist, sondern erstmal nur, dass seine eigenen Bedürfnisse mehr Gewicht bekommen haben, warum auch immer. Er mag gute Gründe dafür haben, und anders zu entscheiden hätte bei ihm vielleicht dazu geführt, dass er Teile von sich selbst aufgeben müsste, die ihm sehr wichtig sind oder ihn ausmachen.

Abgesehen davon sollten wir, als Menschen, uns darauf besinnen, dass Egoismus nichts schlechtes ist. Egoismus wird nur dann schlecht, wenn es zu viel wird. So, wie das auch mit allen anderen Dingen ist. Ein gewisses Maß an Egoismus ist notwendig und wichtig, weil wir sonst nicht in der Lage wären, für uns selbst Verantwortung zu übernehmen. Weil wir sonst keine Grenzen setzen könnten, keinen Selbstschutz gewährleisten, keine Abgrenzung vollziehen könnten.
Am Ende läuft es auch hier wieder darauf hinaus: Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Jeder muss selbst dafür sorgen, dass seine eigenen Bedürfnisse erfüllt werden - und sich eingestehen, dass das nicht mit jedem Menschen passt und funktioniert und dann die Verantwortung übernehmen und entsprechend handeln.
Das bedeutet, Rücksicht zu nehmen, aber sich nicht selbst aufzugeben dabei.
Das bedeutet, Rücksicht einzufordern, aber anzunehmen, wenn man nicht das bekommt, was man haben will.
Das bedeutet, ggf. auch die nötigen Konsequenzen zu ziehen, wenn die Bedürfnisse nicht zusammen passen und Rücksicht nicht ausreicht.
Und das für alle Beteiligten gleichermaßen. 

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