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Einfach ist nicht richtig.

Ich habe nun schon länger darüber schreiben wollen, und passend dazu gab es vor Kurzem einen Artikel in einem der Blogs, denen ich folge, in dem das nur kurz angeschnitten wurde (farbliche Hervorhebungen von mir):

Now, some people will say that if your partner struggles at all with negative emotions surrounding polyamory that this means that it isn’t something they should be doing at all. That you’re either naturally polyamorous or not. And a person who is used to monogamous relationships can’t adapt and be happy in a polyamorous relationship system.
A lot of people believe this. But I don’t. I believe it’s possible for a partner to be having a hard time adjusting and still want to learn to adapt and eventually be successful at it. And that’s because I effectively learned to become polyamorous. There are a significant number of people who don’t fall into nonmonogamy as a default relationship pattern and instead discover it later in life through chance, circumstance, seeking, learning, and growing. There’s no shame in this. It doesn’t make someone “less poly.” In fact, I am not naturally poly. Instead, I am proudly, unnaturally poly — in two senses:
  1. I have put a lot of intent and purposeful work into being as secure and as good a manager of multiple simultaneous relationships as I can possibly be —  i.e., I’m not at my factory default settings.
  2. Oh good lord am I ever poly, unnaturally so. A ghoulishly poly glow arises from my eyes.
And let’s be real: Not all of this work was noble or pretty (I mean, my memoir about those times was called “dumpster fire in the middle of a clusterfuck…a ride and a half… 5/5” by one reviewer).
But am I happy I did it? Yep. So happy. It was hard work, to be sure, but the benefits from doing all that work were frankly huge.

Page Turner, Poly.Land, 14.08.2018


Kurz zusammengefasst steht dort, dass einige Menschen glauben, dass auch nur im Ansatz Schwierigkeiten im Zusammenhang mit poly zu haben bedeutet, dass der Mensch nicht poly sein sollte, und dass es entweder natürlich sei oder nicht. Page selbst glaubt nicht daran, und verweist auch darauf, dass es Menschen gibt, denen es schwer fällt, sich an poly zu gewöhnen - es aber dennoch unbedingt wollen, und letztlich auch erfolgreich sind damit. Sie selbst sei einer dieser Menschen.

Und ich bin da ganz bei ihr. Poly kann etwas sein, mit dem ein Mensch geboren wurde. Es kann natürlich zu einem selbst gehören, oder auch nicht. Es gibt Menschen, bei denen das einfach so ist, und Menschen, die einfach mono sind. Aber es gibt auch viele Menschen, für die beides funktioniert.
Und unabhängig davon, ob man nun mono oder poly ist oder sein will, bedeutet das auch nicht, dass es einfach funktionieren muss.

Wie gesagt, ich bin da ganz bei ihr. Im Gegensatz zu ihr bin ich aber nicht "unnaturally poly" - ich denke tatsächlich, dass poly schon zu meiner tiefsten Persönlichkeit gehört. Das bedeutet aber nicht, dass ich einfach so leben konnte. Etwas zu sein und etwas zu tun sind unterschiedliche Dinge. Um poly leben zu können, muss man, wie Page sagt, sicher sein und mehrere gleichzeitige Beziehungen auch managen können. Das erfordert zum einen sehr viel Arbeit an sich selbst, personal growth, und zum anderen skills, die man erstmal lernen muss. Dazu gehört bspw. Kommunikation, Offenheit und Ehrlichkeit - und das ist alles nicht so einfach, wie man vielleicht meint, gerade, wenn man bedenkt, dass es nicht unbedingt Dinge sind, die wir lernen. 
Wie oft hört man "Aber [Mensch] muss doch wissen, wie es mir damit geht!", ohne dass jener, der die Aussage trifft, sich die Mühe gemacht hätte, es zu erklären? Wie oft erwarten Menschen, dass man Dinge einfach weiß, ihre Gedanken liest? Mir wurde als Kind erklärt, dass gute Beziehungen funktionieren, weil man nicht darüber reden muss und sich blind versteht. Wenn das ein Ideal ist, woher sollen dann die skills kommen?

Ich bin, wie die allermeisten, aufgewachsen mit dem Ideal von Monogamie, in dem alles irgendwie perfekt sein muss. Man "den Richtigen" finden muss, und dann würde alles schon von ganz allein klappen. Irgendwie ist Beziehung zwar Arbeit, aber eigentlich sollte das gar nicht so sein. Widersprüche. Aber dennoch nur diese eine Möglichkeit, denn alles andere war nicht ausreichend. Da stimmt etwas nicht, und wenn man jemanden wirklich liebt, dann will man nur diesen einen Menschen haben. Hat keine Augen für jemand anderen, als würde die gesamte Welt plötzlich uninteressant werden.
Ich hab das nie verstanden. Und es hat für mich auch nicht wirklich Sinn ergeben.
Aber es hat Einfluss auf mich gehabt. Wie ich denke, fühle, was ich für richtig halte. Ich habe nicht nur einmal diese Dinge wiederholt, in Ermangelung einer Alternative, etwas besserem. Etwas nicht zu verstehen bedeutet nämlich nicht, dass man es nicht dennoch glaubt, wenn man nicht sieht, was es sonst geben soll.
Selbst als ich irgendwann sicher war, dass mono nichts für mich ist, und ich das auch mitgeteilt habe, habe ich oft die Erfahrung machen müssen, nicht ernst genommen zu werden. Es sei nur eine Phase, ich würde mich selbst nicht ausreichend kennen, und dieser Jemand wäre nun der Eine für mich. Abgesehen von der Anmaßung dieser Herangehensweise (auch wenn ich sie verstehen kann, sonst würde man nach der Logik vermutlich keine Beziehung eingehen..) ist also auch mein ganzes Erleben von Respektlosigkeit geprägt, von der Tatsache, nicht ernst genommen zu werden. Als ich angefangen habe, eine Alternative zu suchen, wurde mir das abgesprochen und ich immer wieder in diese Schablonen gepresst, die für mich nicht passten. Um mich herum gab es nur Negativ-Beispiele, wie Beziehungen zu Grunde gingen, weil da Gefühle für jemand anderen aufgetaucht sind oder Sex mit anderen stattfand, selbst wenn alle davon wussten. Dass das daran lag, dass sie zwar davon wussten und ja gesagt haben, ohne es zu meinen, war mir damals nicht bewusst. Woher auch?

Als ich dann endlich soweit war, dass mir poly als Möglichkeit begegnet ist, war mein Verstand voll dabei und wollte das unbedingt. Aber mir hat jeglicher skill gefehlt, der dafür nötig ist. Mir hat der mentale Raum gefehlt, um damit umzugehen. Die persönliche Sicherheit, der Selbstwert.
Dass ich zu dem Zeitpunkt sozial unheimlich isoliert war, und in einer abusive Beziehung, die gas-lighting beinhaltete, hat nicht gerade geholfen, besser damit umzugehen. Zumal am Ende nicht ich es war, die die Beziehung geöffnet hat, sondern mein damaliger Partner, der sich in eine gemeinsame Freundin verliebt hat.
Weil die beiden unsicher waren, ob das wirklich okay wäre, wollten sie unbedingt, dass ich mitmache, und haben mich damit unheimlich unter Druck gesetzt. Es war also plötzlich nicht mehr nur das eigentliche Problem, mich an die Tatsache poly zu gewöhnen und die Diskrepanz zwischen meinem Verstand und meinem Emotionsleben zu überwinden, sondern wurde erschwert dadurch, von zwei Menschen in eine Beziehung gedrängt zu werden, die ich gar nicht haben wollte.
Es war das schlimmste Jahr meines Lebens. Und ich würde es dennoch um nichts in der Welt eintauschen wollen.
Hätte man mich in der Situation gesehen, hätte man mir erzählt, poly sei nicht meins und ich sollte es lassen. Aber ich war mono nie glücklich, das hat nie gepasst. Ich wusste, dass ich das wollte und dass es das richtige für mich war. Aber ich musste erstmal durch all den Scheiß arbeiten, der sich angesammelt hat. Mono-Kultur. Abuse. Nicht vorhandener Selbstwert. Nie gelernt zu haben, zu kommunizieren und einen Partner zu haben, der noch schlechter darin ist. Erwartungen. Meine eigenen Bedürfnisse nicht zu kennen. Grenzen setzen lernen.
Ich bin poly und musste das trotzdem alles hart erarbeiten, lernen. Mich durchkämpfen. Ich habe ein Jahr damit verbracht, ausschließlich an mir zu arbeiten und zu lernen, damit umzugehen, dass mein Partner plötzlich nicht mehr immer Zuhause ist, und zusätzlich nicht gewillt, mir zu sagen, wann er denn Zuhause ist. Ich musste lernen, ein eigener Mensch zu sein. Ein eigenes Leben zu haben. Eigene Bedürfnisse, Wünsche, ein eigenes Erleben. Und ich musste lernen, was ich überhaupt wollte, welche Art von poly für mich die richtige ist. Wo ich stehe, wer ich bin, wohin ich will, was für mich richtig ist.
Es war die Hölle. Es war schrecklich, mit unheimlich vielen Schmerzen verbunden, und hat mich sehr viel Kraft gekostet. Ich habe kaum geschlafen, viel geweint, einigen Menschen die Ohren vollgeheult, unheimlich viel an mir gezweifelt - und enorm viel an mir gearbeitet und mich kennen gelernt. Das Jahr danach war nur etwas besser. Aber heute weiß ich, wer ich bin und was ich will, was für mich richtig ist. Ich kann das kommunizieren, und weiß um meine Schwächen, die ich ebenfalls kommunizieren kann. Ich habe wichtige skills erworben und Dinge über mich gelernt, die mir sehr viel bringen. Ich habe alten Scheiß auflösen können und bin eine bessere, heilere Version von mir selbst geworden. Aber dafür brauchte ich den Schmerz, diese Erfahrungen und all den Mist, der in der Zeit passiert ist. Ohne das hätte ich nicht hierher kommen können.

Ich bereue diese zwei Jahre meiner Selbstfindung nicht, auch wenn sie schrecklich waren und ich dabei hart an meine Grenzen, teils sogar darüber hinaus, gegangen bin. Im Gegenteil - durch sie kann ich heute wirklich ich selbst sein und das genießen. Ich bin so all den Ballast losgeworden, den ich ewig mit mir rumgeschleppt habe und nach dem ich agiert habe, ohne dass ich das wirklich geglaubt hätte. Ich hatte nur keine Alternative. Es war tief in mir verankert, weil ich nicht wusste, wie es anders gehen sollte.
Hätte ich aufgegeben, wäre ich heute immer noch unglücklich und der Meinung, dass mono das einzig mögliche ist. Hätte ich jemandem geglaubt, der mir gesagt hätte, dass ich einfach nicht poly bin und nie würde sein können, hätte ich mich selbst verleugnet.

Es geht nicht darum, ob man poly ist oder nicht. Ob man so geboren ist oder sich dafür entschieden hat. Es geht darum, ob man so leben möchte und was man gewillt ist, zu investieren. Ob es für einen passt oder nicht. Leicht ist das nicht, auch wenn es das sein kann. Aber man ist nicht weniger geeignet, schon gar nicht weniger poly, nur weil es nicht einfach so funktioniert. Wie lange man versuchen will, oder schauen, wie viel Schmerzen man ertragen will dafür, das muss jeder für sich selbst entscheiden. Aber Dinge, die gut sind, sind nicht immer leicht - und müssen es auch nicht sein. Es ist toll, wenn dem so ist, aber nur weil es nicht leicht ist, heißt das nicht, dass es falsch ist. Manchmal ist das, was leicht ist, genau das falsche. Herauszufinden, was es gerade ist, ist wichtig und notwendig. Entscheidungen zu treffen macht Menschen zu Individuen.

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