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Commitment als Tauschhandel?

Ich wurde vor Kurzem gefragt, ob sich auf emotionale Nähe und Tiefe einzulassen nicht schon aus sich heraus ein Tauschhandel sei. Einer, für den Vertrauen notwendig sei, und damit verbunden eben ein klares commitment, immer füreinander da zu sein.

Tatsächlich hat mich die Frage irritiert. Was mich wiederum ebenfalls irritiert hat, denn es ist noch nicht allzu lange her, dass ich noch dachte, beinahe jede Verbindung, die ein gewisses Maß an Nähe und Tiefe erreicht, müsste grundsätzlich auch einen Tauschhandel beinhalten. Typischerweise, in meinem Erleben, commitment und Nähe gegen Autonomie und Freiheit. Stellt sich heraus: Absolut nicht.

Der eigentliche Aufhänger für meinen Post hier war aber tatsächlich die Frage, ob ich mir nicht mehr commitment wünschen würde, wenn es bspw. darum geht, dass ich einen Menschen gern sehen möchte, v.a. in einer Situation, wo ich ihn zum Reden brauche, und dieser mich nicht sehen will. Und tatsächlich ist das eine wundervolle Situation, um zu verdeutlichen, wie commitment für mich funktioniert. Und warum das eben kein Tauschhandel ist.

In diesem Beispiel haben wir zwei Personen.
Ich habe das Bedürfnis, mit Mensch zu sprechen, am besten jetzt sofort. Es ist sehr wichtig, mir geht es vielleicht nicht super gut. Ich sage also Mensch Bescheid, dass ich dieses Bedürfnis habe. Formuliere auch aus, wie stark das Bedürfnis ist, wie weit ich glaube, dass ich Mensch gerade wirklich brauche und gebe alle Rahmenbedingungen, die nötig sind. So kurz und präzise, wie möglich und vor allem, ohne das eigentliche Problem zu erzählen. Ggf. reiße ich es an, wenn danach gefragt wird oder es essentiell ist, um zu verstehen, wie es mir geht.
Mensch hat das Bedürfnis, mich nicht zu sehen. Nicht für mich da zu sein.
Das wichtige hierbei ist, dass allein die Tatsache, dass ich mit diesem Menschen in dieser Situation reden will, schon einiges über unsere Verbindung aussagt. Denn effektiv stehen wir uns so nahe, dass ich nicht nur vollkommen ich bin und mich offen zeige. Sondern explizit und aktiv nach Hilfe frage.
Es ist also nicht irgendein Mensch. Es ist ein Mensch, dem ich vertraue. Auf den ich zurückgreife, wenn ich jemanden brauche. Das bedeutet, wir haben eine etablierte Verbindung. Ich weiß, wie wir zueinander stehen, dass ich ihm wichtig bin - und damit auch, dass es mir gut geht.
Wenn also dieser Mensch, dem ich und mein Wohlergehen wichtig sind, nun sagt, dass er gerade nicht für mich da sein kann, dann hat das sehr sicher sehr gute Gründe.

Und was macht das nun mit mir?
Natürlich macht es die Situation erstmal schwerer. Ich muss mir überlegen, ob ich das gerade allein lösen kann. Oder sehr bald zumindest. Wie weit ich für den Moment zurecht komme.
Ich kann zu dem Ergebnis kommen, dass es gar nicht so schlimm ist und ich das allein schaffe.
Vielleicht hilft es auch, darüber zu schreiben - mit Fremden im Internet zum Beispiel.
Vorausgesetzt, das ist eine Option, kann ich entscheiden, gerade damit zurecht zu kommen und damit zu warten, bis Mensch Zeit und Energie für mich hat. Dabei ist wichtig, dass ich mir ganz sicher bin, dass es passiert - und das bedeutet auch, es nicht einfach anzunehmen. Ich würde das in den meisten Fällen vermutlich nicht abklären, wenn ich gerade ein Nein bekommen habe. Aber grundsätzlich gehe ich nicht davon aus, dass es passiert - es kann tausend Gründe haben, warum ein Nein kam. Das Thema kann grundsätzlich problematisch sein, Mensch kann auf unbestimmte Zeit die Ressourcen nicht zur Verfügung haben, ...
Die nächste Option ist, jemand anderes um Hilfe zu bitten.
Wichtig ist: Es ist nicht notwendig, dass Mensch für mich da ist. Er ist nicht verpflichtet und es mir nicht schuldig. Ich bin ihm nicht böse, sondern im Gegenteil, dankbar, dass er ehrlich war.

Denn:
Wenn Mensch, dem ich wichtig bin, mir sagt, dass er nicht für mich da sein kann, dann hat er einen wirklich wichtigen Grund dafür. Ich muss den Grund nicht wissen, um zu wissen, dass er wichtig ist. Der Grund ist am Ende aber auch vollkommen egal. Was viel wichtiger ist, ich weiß, dass Mensch nein sagt, wenn er es für richtig hält. Das bedeutet auch, dass ich mich darauf verlassen kann, dass er für sich sorgt. Ich weiß, dass er diese Entscheidungen nicht leichtfertig trifft - wir sind uns nämlich so nah, dass ich überhaupt auf die Idee gekommen bin, ihn um Hilfe zu bitten. Es ist also eindeutig, wie er zu mir steht und sein Nein stellt unsere Beziehung nicht in Frage.
Hier kommen nun einige sehr wichtige Dinge zusammen.

  1. Er weiß, dass er Nein sagen kann, ohne dass es sich negativ auf unsere Beziehung auswirkt.
  2. Er kann Nein sagen, ohne dass er sich über Konsequenzen Gedanken machen muss, also immer dann, wenn er es für nötig hält.
  3. Er weiß, dass es mir wichtig ist, dass er für sich sorgt.
  4. Er braucht keine Angst haben, Nein zu sagen.
  5. Ich kann mich darauf verlassen, dass er Nein sagt, wenn er es für nötig hält
  6. Das bedeutet, ich kann ihn immer um Hilfe bitten und muss nicht abwägen, ob das nicht zu viel wird. Voraussetzung ist, dass ich dabei deutlich mache, wie wichtig das gerade für mich ist.
  7. Ich brauche keine Angst haben, um Hilfe zu bitten.

Effektiv habe ich also eine Situation geschaffen, wo wir beide maximal ehrlich miteinander sein können, ohne dass es unsere Verbindung in Frage stellt. Und das führt zu noch mehr Nähe. Denn am Ende können wir uns sicher sein, dass wir a) vollkommen offen miteinander sein können und b) alles auf Freiwilligkeit beruht.
Wenn wir nur das miteinander teilen, was wir wirklich miteinander teilen wollen, können wir uns darauf verlassen, dass es so richtig ist - für uns beide. Keiner von uns hat einen Anspruch auf den anderen. Aber all das ist am Ende riesige Wertschätzung von beiden Seiten.
Nicht zu verlangen, dass er für mich da ist, komme was wolle, wertschätzt ihn, weil ich damit zeige, dass es mir wichtig geht, wie es ihm geht. Und ich seiner Einschätzung vertraue, unabhängig von dem Grund.
Mir nein zu sagen wertschätzt mich, weil er ehrlich zu mir ist.
Und es zeigt uns beiden, dass unsere Verbindung solide und wertvoll ist, dass wir einander wichtig sind.

Wünsche ich mir also mehr commitment? Nein.
Ich habe genau das commitment, das ich gerne hätte. Nämlich jenes, für sich selbst zu sorgen. Für den anderen da zu sein ergibt sich ganz von allein - denn letztlich sind wir einander wichtig. Das bedeutet auch, dass wir wollen, dass es dem anderen gut geht - und wenn wir dazu beitragen können, tun wir das, soweit wir die Ressourcen dafür gerade haben.
Ich will freiwilliges commitment, für das ich mich in jedem Moment entscheiden kann - und mich genauso gut dagegen entscheiden. Und das will ich auch für meine Menschen. Ich will ein commitment, das nicht festgeschrieben ist, sondern das aus vielen kleinen Entscheidungen entsteht. Ein akkumuliertes, das sich ändern kann. Kein festes, steifes. Ich will commitments, die man gerne eingeht, gerne aufrecht erhält. Welche, die freiwillig und gern gegeben werden. Solche, die jeden Tag wieder auf's Neue entschieden werden. Ich möchte commitments, die ein Geschenk sind, kein Tauschhandel. Es wird nicht verhandelt und ist nicht abhängig davon, was der andere geben will. Stattdessen sprechen wir beständig darüber, wo wir gerade sind, und aus unseren Interaktionen und unseren Entscheidungen, unserem Vertrauen zu- und ineinander, fügen sich zu einem commitment zusammen, das sich einfach darauf gründet, dass wir einander wichtig sind. Es ist nicht für die Zukunft. Es ist im Jetzt, und kann über den Blick in die Vergangenheit erst als Ganzes erkannt gesehen werden.

Und ich weiß, dass Mensch immer für mich da sein wird, wenn er kann. Nicht, weil er muss, sondern weil er es will. So wie ich andersherum auch für ihn.

Also nein. Commitment muss kein Tauschhandel sein, und ist es für mich auch definitiv nicht. Ich bin auch nicht sicher, ob ein Mehr an commitment hier überhaupt möglich ist. Aber ich weiß, dass ich eine andere Form von commitment nicht haben möchte.

Tatsächlich glaube ich, dass diese Form von commitment mehr Nähe mit sich bringt, weil man sich viel mehr öffnen muss. In jedem Moment vertrauen.
Ich glaube auch, dass es sicherer ist. Eben weil es freiwillig ist und ich mich genau deswegen darauf verlassen kann - es liegt ja kein Zwang dahinter, sondern ein ständiger freier Wille. Es fühlt sich nur viel unsicherer an, weil es nirgends festgeschrieben ist. Und das mag es in einzelnen Momenten auch nicht sein - aber über Zeit gesehen. Einfach, weil ich mir sicher sein kann, dass Mensch dabei nicht kaputt geht und dass er freiwillig da ist.

Ich bin dankbar für den Menschen, durch den mir das so klar geworden ist.
Und ich bin ungemein dankbar für die Menschen, mit denen ich das so teilen kann. <3

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