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Rückblick 2010er

Die Dekade geht zu Ende und online wird immer wieder danach gefragt, was für uns jeden persönlich in diesem Jahrzehnt passiert ist. Was wir erreicht haben. Was wir erlebt haben. Was uns passiert ist.

Wenn ich selbst zurückschaue, sehe ich vor allem eines:
Enorm viel Wachstum. Einen Heilungsprozess, der schon davor angestoßen wurde und auch noch lange brauchen wird, bis er zur Vollendung kommt, aber in diesen 10 Jahren enorm vorangegangen ist. Und auch der Beginn meines Lebens. Nicht nur mein eigenes, selbstbestimmtes Leben, sondern wirklich ~leben~, im Gegensatz zu purer Existenz.

Im Kleinen hat es 2010 mit dem Auszug bei meinem Vater begonnen.
Da war noch eine abgebrochene Schwangerschaft.
Mein Studium.
2012 der Auszug bei meiner Mutter.
Mein erstes richtiges Zuhause. Menschen, die es zu einem solchen gemacht haben und mir beigebracht haben, was Zuhause eigentlich bedeutet.
2013 dann der Kontaktabbruch zu meinem Vater.
Kontaktreduzierung zu meiner Mutter.
2014 das erfolgreiche Ende meines Studiums.
Mein Führerschein. Und mein erstes Auto.
Die Entdeckung des Begriffs Polyamorie und damit auch tatsächliche Auseinandersetzung mit den ersten tiefliegenden Auswirkungen meines Traumas.
Die Entdeckung des Begriffs Beziehungsanarchie und das philosophische Finden meiner eigenen Werte. Damit verknüpft auch die Loslösung von meinem damaligen Partner und die ersten Schritte in ein selbstbestimmtes, selbstgewähltes Leben.
2016 dann der Auszug aus meinem ersten wirklichen Zuhause.
Kurz darauf die Feststellung, so - mit meinem damaligen Partner und seiner Partnerin, zu deren Konditionen - nicht leben zu wollen. Und auch nicht zu können.
Meine erste weitere Beziehung.
Wiederentdeckung meiner Sexualität und meiner kinks.
Die Entscheidung, nicht zu heiraten.
Das Ende der Beziehung zu meinem langjährigen Partner.
Meine erste eigene Wohnung noch im gleichen Jahr.
Meine erste kink-Veranstaltung.
Langsam herausfinden, was für mich passt und was nicht - sowohl im Versuch als auch im theoretischen Anlesen.
Die Erkenntnis, dass ich abuse survivor bin.
2017 dann endlich der Mut, mein Leben nicht nach anderen auszurichten.
Die Wahl der Labels Solo Polyamory, Relationship Anarchy, pansexual, demisexual.
Der Poly-Stammi wird dauerhafter Teil meines Lebens.
Mein erstes LARP. Mein erster CSD. Mein erster Urlaub, seit ich Kind war.
Die ersten Schritte Richtung Top. Erste Erfahrungen mit fluidem Switchen.
Die Übernahme der Orga des Poly-Stammis.
Und der Beginn dieses Blogs.
2018 dann die ersten Berührungspunkte mit Reenactment und Schwertkampf.
Mein erster Vollzeitjob.
Die ersten Schläge in die Fresse, die meine Depression auslösen werden.
2019 dann die Schulung, die mir gezeigt hat, woher ich komme - und wie weit ich es schon gebracht habe.
Der Unfall, durch den ich lerne, dass mein Support-Netzwerk großartig ist und ich hilfebedürftig sein kann, ohne hilflos zu sein und ohne mich abhängig zu fühlen.
Die Entscheidung, mein Trauma anzugehen und Therapie zu beginnen. Auch wenn die Suche nach einem Platz unglaublich scheiße und ertragslos ist.
Dann die restlichen Schläge in die Fresse und der Zusammenbruch.
Diagnose einer mittelschweren Depression, Arbeitsunfähigkeit.

Ich habe Menschen aussortiert, die mir nicht gut tun und gelernt, diese zu erkennen. Ich habe Menschen dazu gewonnen und andere verloren. Es haben sich alte Freunde gemeldet, um wieder Kontakt zu haben. Verbindungen sind zu Ende gegangen oder haben sich geändert.
Ich bin gewachsen. Größer und stärker geworden. Habe mich selbst gefunden und gelernt, für mich einzustehen. Habe gelernt, mich selbst zu hören und zu fühlen und das nach Außen zu tragen.
Ich habe mein eigenes Leben begonnen und mich darin eingerichtet.
Ich habe mich meinem Trauma gestellt und bin daran gewachsen. Ich konnte heilen und aufarbeiten.
Ich bin zusammen gebrochen und immer noch hier.
Ich habe Kämpfe ausgetragen und konnte mich auch ausruhen.
Ich habe erfahren, was es bedeutet, nicht allein zu sein und unterstützt zu werden. Bedingungslos.
Mir ist bewusst geworden, dass ich nicht nur Bedürfnisse habe, sondern sie auch haben darf und dass Menschen, denen ich wichtig bin, auch meine Bedürfnisse wichtig sind.
Mir ist Liebe zuteil geworden.
Ich habe verstanden, was community ist und bedeutet und warum sie wertvoll ist.
Ich habe gesehen, wie viel ich weiß und wie viel ich davon weitergeben kann, damit auch andere wachsen.
Mir ist deutlich geworden, dass Wachstum und Heilung immer andere braucht - aber dass wir uns gegenseitig dabei unterstützen können und es keinen Meister braucht.
Mir ist klar geworden, dass ich mehr kann, als ich denke und dass die Stimmen in meinem Kopf lügen.
Ich habe eine Ahnung davon bekommen, wie groß und stark ich wirklich bin. Wie viel ich bewirken kann. Und wie viel Verantwortung das ist.

Auch wenn noch ein weiter Weg vor mir liegt und die Depression mir erzählt, dass ich versagt hätte, ich wieder ganz unten sei - es ist eindeutig, wie weit ich schon gekommen bin. Was ich schon erreicht habe.
Und es wird nur mehr: Mehr Menschen, mehr Unterstützung, mehr Liebe, mehr Wissen, mehr Kraft, mehr Heilung.
Auch wenn es sich nicht so anfühlt - ich bin weit gekommen. Habe viel überwunden und viel gewonnen.
Ich mag auf den Knien sein. Aber ich habe halbtot und begraben angefangen, für mich zu kämpfen, als da niemand war, niemand an mich geglaubt hat. Ich bin bis hierher gekommen, und ich bin nicht mehr allein.

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