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Lucien: Absolution

Er saß allein im Wohnzimmer, den Brief, welchen er zwei Tage zuvor erhalten hatte, in der Hand, und starrte auf die Zeilen, welche er mittlerweile auswendig kannte. So lange hatte er sich Vorwürfe gemacht, so lange geglaubt, er habe mit seinem Verhalten dieser einen Person gegenüber alles nur noch schlimmer gemacht. Obwohl er diese Person über alles geliebt hatte, hatte er seine Versprechungen gebrochen und ihr Leid zugefügt, sodass sie letztlich Suizid begangen hat - oder besser: wollte, denn dies war der Beweis, dass er noch lebte.
Wie auch der Besuch bei Constance vor einigen Wochen, bei dem er ihn gesehen hatte.. seinen geliebten jungen Mann, den er nie vergessen hatte und doch zu verdrängen versucht, weil die Erinnerung zu sehr schmerzte. Und nun dieser Brief.

Noch immer zitterten Luciens Hände, wenn er darauf blickte oder sich nur an den Inhalt erinnerte. Und wenn er die Worte wieder und wieder las, war er zu Tränen gerührt, starb tausend Tode und fühlte sich zugleich erleichtert. Der Brief war es, der ihm Absolution erteilte, ihn von seiner Schuld befreite und ihm sagte, dass was er getan hatte, nicht so schlecht war, wie geglaubt. Dass er eben doch richtig gehandelt hatte, obwohl ohm damals solch ein Vorwurf daraus gemacht worden war. Obwohl es damals so falsch zu sein schien, dass sein Ein und Alles in der Seine verschwinden wollte, weil er keinen Sinn und keine Hoffnung mehr in seinem Leben sah.
Und warum? Weil er glaubte, die einzige Person verloren zu haben, die ihm damals etwas bedeutet hatte. So stand es in dem Brief. Weil er glaubte, keine neue Anstellung finden zu können, nirgends gewollt war und nach diesen verhängnisvollen Stunden nicht mehr glauben konnte, dass es jemals wieder normal sein könnte zwischen ihnen.

Lucien seufzte. Ihm bedeutete dieser Brief alles. Vor allem jene Zeilen, in denen er schrieb, dass er sich über ein Wiedersehen freuen würde. Und dann kamen die Erinnerungen - wieder einmal. Wie er ihm das Schreiben und das Lesen beibrachte. Und wie sie zusammen saßen, sich unterhielten und die Gesellschaft des anderen genossen. Oder die Nächte in den Gärten, nachdem all die anderen Feiernden schon schliefen oder sich verzogen hatten, diese wenigen Stunden zu zweit.

Langsam stand er auf, ließ den Brief zu Boden gleiten und ging zum Fenster. Strömender Regen, sodass kaum jemand auf den Straßen zu sehen war. Ein Lächeln legte sich auf sein Gesicht, denn endlich hatte er wirklich begriffen. Es war kein Traum, kein Wunschdenken, sondern Wirklichkeit. Und er hatte ihm verziehen, all das, was Lucien ihm angetan hatte.

Seine Hand lag am Glas des Fensters, und darum bildete sich  ein Kondensstreifen, wo die Scheibe wärmer wurde. Für eine Weile stand er da und sah in den Regen hinaus, lächelnd, aber noch immer mit Tränen in den Augen. Die Geschehnisse der letzten Tage machten ihn so überaus glücklich - er hätte nicht gedacht, dass das noch einmal so der Fall sein könnte.

Schließlich wandte er sich ab, setzte sich an sein Cello und spielte - von seinem Glück und seinem Leid. Vor allem aber von seiner Liebe zu diesem jungen Mann, der ihm doch so fern war und von dem er bis vor Kurzem gedacht hatte, ihn für immer verloren zu haben.


©2010
abgedruckt in "Autoren von Morgen",
Anthologie von 2011

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