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Lucien: Leere Erinnerungen

Es war definitiv sein Zimmer. Mitten im Raum stand ein Flügel, es gab eine kleine Sammlung von Violinen und auch ein Cello. An den Wänden Regale voll mit Büchern, oftmals Erstausgaben, teils schon hunderte Jahre alt, unterbrochen von Portraits verschiedener Personen, in verschiedenen Epochen. Manche Gesichter schienen sich zu wiederholen, aber zu so unterschiedlichen Zeiten, dass es kaum möglich sein konnte.
Im Raum standen auch diverse Sitzmöglichkeiten, auch diese scheinbar aus unterschiedlichen Epochen. Allgemein wirkte der Raum vermutlich wunderlich, aber auch leicht verstörend, nachdem einfache Alltagsgegenstände und sogar Schund neben antiken Kostbarkeiten standen oder hingen, in scheinbar willkürlicher Anordnung. Der gekonnte Blick würde vermutlich erkennen, dass es nichts gab, das älter als 17. Jahrhundert war.
Der Raum wirkte übervoll, aber nicht unordentlich. Als hätte alles seinen Platz, auch wenn keine bestimmte Ordnung erkennbar wäre.

Am Fenster stand ein riesiger Ohrensessel, in dem der junge Mann, der darin saß, beinahe verschwand. Sein Blick war in die Leere hinter dem Fenster gerichtet, die nur von Regen angefüllt zu sein schien und sonst nichts offenbarte. Sein linker Arm war auf die Lehne gestützt, die Hand lag vor seinem Mund - und darin ein Stoffband, das über den Handrücken lief und so unter seiner Nase lag. Die andere Hand lag in Luciens Schoß, ein Kuscheltier umklammernd, das farblos war und schon unendlich alt aussah. Er regte sich nicht, es war nicht einmal sicher, ob er atmete. Sein Gesicht war ernst, aber weich dabei. Seine dunkelbraunen Locken fielen ungebändigt auf seine Schultern und in vor die tief lilafarbenen Augen.
Sanft schlug der Regen an die Scheibe, im Raum war es ansonsten totenstill.

Er hatte keine Tränen mehr. Schon seit Ewigkeiten nicht mehr.
Lucien hatte auch schon lange vergessen, wie sein Gesicht ausgesehen hatte. An dessen Stelle war nur noch eine Ansammlung von Nichts. Mittlerweile war der Schmerz und die Wut über das Vergessen ebenfalls verloren, und auch davon blieben nur noch Leere in ihm zurück. Man hätte meinen sollen, dass Lucien mittlerweile auch vergessen hätte, dass es ihn überhaupt gegeben hatte. Aristide. Aber nein.. sein Name hatte ihn nicht verlassen, und auch nicht die Erinnerung daran, dass es ihn einst gegeben hatte. Nur.. all der Rest. Die geteilten Momente, sein Blick, sein Gesicht, sein Geruch.. was blieb, war das Gefühl von Schuld. Der Verlust. Der Schmerz.

Sein Gesicht blieb wie versteinert, doch die Finger um das Kuscheltier verkrampften sich und er zog es näher an sich heran.
Und das Blut, als Aristide sich beim Bankett direkt neben Lucien an Glas geschnitten hatte.. der Anblick seines Blutes, wie es aus seinen Fingern quoll, hatte sich eingebrannt. Vielleicht, weil das am Ende der Moment war, an dem alles begann.
Es fühlte sich an, als würde Lucien zusammengequetscht. Alles, was ihm blieb, war diese schreckliche Leere an der Stelle, wo seine Erinnerungen von Aristide sein sollten. Und das Wissen, dass er ihn in sein Ende getrieben hatte. Und, natürlich, die Habseligkeiten, die sie von Arisitde aus der Seine gefischt hatten, an denen sich Lucien gerade festklammerte. Nicht einmal der Geruch nach der Seine war geblieben, nicht mal der hatte die Zeit überdauert.

Bei dem Gedanken verzog sich ein Mundwinkel Luciens nach oben. Er stand auf und legte das Kuscheltier sanft im Sessel ab, das Band behielt er aber in der Hand. Seine Bewegungen waren mechanisch, als er durch den Raum ging und einen der Geigenkästen nahm, um seine älteste Violine herauszunehmen. Die Stainer war einfach, uralt.. aber auch gut gepflegt. Das Band um die Finger gewickelt, fuhren seine Finger sanft über das Instrument. Ein schmerzliches Lächeln legte sich auf Luciens Lippen, als er die Violine inspizierte und dann stimmte.

Er trat wieder ein paar Schritte in Richtung Fenster, bevor er das Instrument schließlich liebevoll anlegte und die ersten Noten hervorlockte, sanft, langsam..
Wo er keine Worte hatte, keine Bilder, keine Erinnerungen, da hatte er doch immerhin noch die Musik. Und so spielte er.. für sich, für Aristide, für die Vergangenheit und das Leid, das er verursacht hatte.
Und für den Moment lebten die Momente wieder auf, kamen Erinnerungen an geteilte Erlebnisse in ihm hoch, schienen für einen Augenblick als Schemen im Raum zu stehen. Kaum erkennbar, aber doch.. Es reichte nicht für sein Gesicht, aber für diesen einen Moment war alles andere wieder da. Und damit anstatt der Leere auch die Liebe, und der Schmerz. Die Vorwürfe, die Trauer. Der Verlust.

Als könnte die Musik ihn durch die Zeit reisen lassen, für einen Moment noch einmal in diesen Zimmern sein, die er gehasst hatte. In der Aristide ein weiches Licht gewesen war. Lucien hatte lange gebraucht, um zu verstehen, was er falsch gemacht hatte, aber irgendwann hatte er es verstanden und sich selbst dafür verflucht. Auch das war kurz wieder da, verschwand dann aber wieder, als seine  Musik ihn noch weiter in die Vergangenheit trug, bis hin zu diesem einen Menschen, den zu lieben Lucien sich nie hat verzeihen können, den zu lieben er aber auch nie hatte aufhören können.

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