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Semikolon

Das Semikolon hat, neben der grammatikalischen Bedeutung, auch eine metaphorische. Wie das grammatikalische Semikolon ist das metaphorische ebenfalls kein Komma, aber auch kein richtiges Ende.
 
Mein Leben hätte hier enden können.
Es ist aber weitergegangen.
Ich habe überlebt.

Das Semikolon bekommt in seiner metaphorischen Bedeutung zunehmend Bedeutung für mich. Nicht, weil das alles so neu ist, sondern weil ich schon mehrfach an diesem Punkt stand.

Ich erinnere mich an zwei Instanzen sehr deutlich, in denen ich um Hilfe gebeten habe, weil ich an dem Punkt war. Und .. einfach keine kam. "Du willst doch nur Aufmerksamkeit" und ähnliche Aussagen, als ich verzweifelt nach Auswegen gesucht habe. Nach Hilfe. Nach Unterstützung. Nach Gründen, es nicht zu tun. Als einfach alles so viel gewesen ist, dass ich nicht mehr konnte. Aber auch Angst davor hatte.
Obwohl, das ist nicht richtig. Ich hatte keine Angst. Ich wusste, dass es mir hätte Angst machen sollen, auch wenn ich sie nicht fühle.

In der ersten Situation hat mich meine Mutter nicht gehört, obwohl ich sehr deutlich war. In mir Abgestumpftheit und Taubheit, und darunter rasende Verzweiflung, von der ich nichts mehr wahrnehmen konnte, weil es einfach zu viel gewesen ist. Keine richtige Reaktion. Wieder allein gelassen. Auf mich allein gestellt, um nicht nur mit der beschissenen Situation, sondern auch mit mir selbst zurecht zu kommen. Greifen nach kleinsten Strohhalmen, weil ich irgendwo wusste, dass es nicht richtig ist. Der dickschädelige Entschluss, dass es nicht noch schlimmer werden konnte - und das Versprechen an mich, erstmal zu sehen, es beenden könnte ich immer noch. Jederzeit, zu meinen Bedingungen. Aber vielleicht.. vielleicht war da ja noch irgendwas anderes?
Damals war ich 12/13. Der Zustand war schon über Jahre da, die Umstände hatten sich nur noch weiter verschlimmert und ich hatte nichts mehr, woran ich mich festhalten konnte. Erleichterung durch den Umzug zu meinem Vater, wenn auch nur sehr bedingt.

Das zweite Mal war nur wenige Jahre später. Ich war irgendwo zwischen 15 und 17. Die Suizidalität war nie ganz weg gewesen, aber nicht so heftig, nicht so im Vordergrund. Der Tod war ein stetiger Begleiter, ein Versprechen von Ruhe. Ich kann mich erinnern, wie ich mich an den Esstisch setzte, weil ich darüber reden musste. Weil ich Hilfe wollte, nicht mehr weiter wusste. Nicht wusste, was ich tun sollte. Ich hatte immer noch keine Angst, auch wenn ich (wieder) wusste, dass es mir Angst machen sollte.
Ich kann mich daran erinnern, wie ich meinem Vater nüchtern erzählte, was in mir vorging. Beinahe kalt. Ich kann mich an Tränen erinnern, aber nicht mehr daran, ob ich wirklich geweint habe. Was sich eingebrannt hat, ist die Reaktion meines Vaters - dass ich mich zusammen reißen sollte und mich nicht so anstellen. Der Vorwurf, nur Aufmerksamkeit zu wollen, dass da nichts dran sei. Aufkochende Verzweiflung und wie ich ihn angeschrien habe, ob ich erst so randalieren müsse, wie mein Bruder und mein Stiefbruder, um ernst genommen zu werden.
Seine Reaktion ein Schlag ins Gesicht, gerade auch, weil er mich zuvor für einige Zeit gezwungen hatte, mit ihm zu reden. 

Was aus der ganzen Zeit geblieben ist, ist das Gefühl, damit allein zu sein. Die Erkenntnis, dass ich mir entweder selbst helfen muss oder keine Hilfe kommen wird. Nicht wertvoll genug zu sein. Nicht darüber reden zu können. 
Auch deswegen rede ich heute so offen, klar und massiv darüber. Weil ich mir meinen Raum zurückerobere und wieder um Hilfe bitte. Nur, dass ich dieses Mal gehört werde.

Hätte ich Eltern gehabt, die ihren Job machen und sich wirklich um mein Wohlbefinden kümmern, wäre ich schon vor Jahren in Therapie gekommen. Stattdessen haben sie mich allein gelassen, mir nur noch mehr aufgebürdet. Mich misshandelt.

Mein Leben hätte hier enden können.
Es ist aber weitergegangen.
Ich habe überlebt.

Ich bin bis heute nicht ein einziges Mal in Therapie gewesen. Ich war im November das erste Mal in einer Klinik, weil ich auf Grund der Umstände wieder in Depression gefallen bin. Weil mein Trauma nachwirkt, mich in allen Lebensbereichen trifft, wieder aufkommt.

Die Klinik hat mir nicht geholfen. Einen Therapieplatz zu bekommen, ist quasi unmöglich. In der Klinik und auch sonst geht es vor allem darum, mich möglichst wieder arbeitsfähig zu bekommen. Aber davon geht mein Trauma nicht weg. Das hilft mir nicht. Nicht wirklich.
Wieder dieses Gefühl, allein gelassen zu sein. Dass es niemanden wirklich interessiert. Dass ich keine Hilfe bekomme, obwohl ich darum bitte. Weil dieses System beschissen ist und dich allein lässt.

Der einzige Unterschied: Ich bin selbst schon viel weiter. Denn ich habe mir all die Jahre selbst geholfen, mir das alles selbst erarbeitet. Und ich bin nicht alleine, denn ich habe auch darauf hingearbeitet, endlich Menschen zu haben, die mich ernst nehmen. Die sich wirklich um mich und mein Wohlbefinden kümmern. Ich bin nicht mehr allein.

Aber dennoch ist dieses Gefühl wieder da. Die Nähe zum Tod, die Vertrautheit.
Ein Teil von mir will leben, aber da ist auch immer wieder die Frage, wofür eigentlich? Das Versprechen von Erlösung, von Ruhe. Endlich ein Ende zu finden. Ins Nichts zu gleiten und einfach loszulassen. Dieses Versprechen ist gefährlich verlockend, immer wieder.
Aber als ich in der Klinik darüber gesprochen habe, war es nicht "akut" genug. Weil ich differenzieren kann, sagen, dass das nicht tatsächlich mein Wunsch ist, auch wenn ich das Bedürfnis habe. Auch wenn die Gedanken da sind.

Sie sind nicht suizidal.
Ich frage mich: Wann bin ich es dann? Wenn das Bedürfnis nicht mehr wegzurationalisieren ist? Wenn ich nicht mehr um Hilfe bitte?
Dann ist es zu spät. Ich bin nicht das erste Mal an diesem Punkt. Ich habe jahrelang Pläne geschmiedet und habe eine ganze Auswahl an Möglichkeiten.
Es ist ein Tanz auf der Klippe. Ich bitte um Hilfe, weil ich den Abgrund sehe. Weil ich weiß, dass ich nur die Balance verlieren muss, nur abrutschen, nur einen kleinen Schubs bekommen.. und dann frage ich nicht mehr. Dann brauche ich auch nicht mehr planen, überlegen, besorgen.
Wenn es kippt, dann ist der Entschluss da. Und die Pläne sind bereit, warten nur auf ihre Zeit. Und aus dem ständigen Begleiter an meiner Seite wird der Freund, der mich in seine Arme schließt und mit in sein Reich nimmt. Ein wenig, als würde man nach einer langen Reise endlich erschöpft nach Hause kommen.

Mein Leben hätte hier enden können.
Es ist aber weitergegangen.
Ich habe überlebt.

Wie oft noch? 
Wie zwei Teile von mir, getrennt voneinander.
Auf der einen Seite der, der Pläne macht und in die Zukunft schaut, sich auf Dinge freut.
Auf der anderen Seite der, der tot sein will, sich nach einem Ende sehnt.
Beides kann nebeneinander bestehen, ohne den anderen weniger echt sein zu lassen. Es ist nicht einmal ein Kampf, sondern gehört beides zu mir.

Ich denke an das Semikolon und wie es zunehmend wichtiger wird. Als Erinnerung, dass ich hier schon ein paar Mal stand. Dass ich es geschafft habe. Dass es sich gelohnt hat. Dass mein Leben hier enden kann, aber nicht muss.

Wie oft noch, bis ich nicht mehr kann?
Wann bekomme ich nicht nur Unterstützung, sondern auch endlich die Hilfe, die ich schon seit mindestens 18 Jahren brauche?

Mein Leben könnte hier enden.
Ich gehe aber weiter.
Ich lebe noch.

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